Rezension zu „Piff, Paff, Puff – Prostitution in der Schweiz“ von Aline Wüst. Erschienen im Echtzeit Verlag GmbH, Basel. 2. Auflage 11. September 2020, 146 Seiten, 28 €.

Beschreibung:
Ein authentischer und schonungsloser Bericht über Prostitution in der Schweiz. Zu Wort kommen Prostituierte, Freier, Vermieterinnen, ein Anwalt, ein Psychiater, eine Ärztin und Polizisten sowie zwei Inhaberinnen von Frauenhäusern in Rumänien.
Das Buch enthält keine Bilder, aber um die Brisanz einzelner Teile der Texte zu unterstreichen, wurden manche Seiten goldfarben „editiert“ – der Text ist dann vollständig auf der nächsten Seite zu lesen.

Inhalt:
Fast zwei Jahre saß die Autorin Aline Wüst Abend für Abend in der Lounge eines Schweizer Bordells und versuchte mit den dort arbeitenden Frauen ins Gespräch zu kommen. Die Chefin dort heißt Anna und ist ebenfalls eine ehemalige Prostituierte. Anna ist sehr fürsorglich und kennt die Probleme der meist sehr jungen Frauen. Auch versucht sie oft zu helfen – doch wird ihre Hilfe von den Frauen meist nicht angenommen.
Die Gespräche mit den Frauen verlaufen sehr schwierig, denn sie haben kein Interesse daran zu erzählen, es ist für sie aufgrund belastender Ereignisse oftmals anstrengend und es werden nur unnötig „Türen geöffnet“. Meist wollen die Frauen ihre Türen verschlossen halten und nichts von sich preisgeben – aus Angst, Scham oder um ihren Schmerz zu verstecken und ihn nicht wahrhaben zu müssen. Elena, die Ungarin, sagt von sich, sie sei so hungrig nach Liebe und Fürsorge und daher kaufe sie bei jedem Heimatbesuch für über 1.000 Franken Unterwäsche ein. Nicht weil sie diese brauche, sondern weil sie es liebt, wie sich die Verkäuferinnen um sie kümmern.
Außerdem leiden viele Frauen unter dem Stigma der Sexarbeit und entwickeln einen Verfolgungswahn und haben Angst, auf der Straße erkannt zu werden. Mütze und Schal oder Sonnenbrille sind dann je nach Jahreszeit willkommene Accessoires beim Einkaufen.

Für Lars, einen Freier, ist es nicht ungewöhnlich, 10.000 Franken in einer Nacht auszugeben. Er schämt sich dafür, sagt aber auch, Zitat Seite 53:
Männer, die noch nie für Sex bezahlt haben, kenne er nicht. „Behaupten sie etwas anderes, lügen sie.“

95% der Prostituierten in der Schweiz sind osteuropäischer Herkunft; Schweizerinnen gibt es fast keine mehr im Milieu. Alexander Ott, Chef der Fremdenpolizei Bern geht davon aus, dass 50-70 % der Frauen freiwillig diesen Job ausüben. Auch seien mögliche Vergehen in Bezug auf Menschenhandel schwer aufzudecken, denn alles sei viel subtiler, als wir glauben. Zitat Seite 32: „Es ist eine Illusion, zu denken, dass die Ketten an den Händen oder Füßen sind. Die Ketten sind im Kopf.“
Und auch wenn die meisten Frauen kein Opfer von Menschenhandel sind, darf man hierbei jedoch nicht vergessen, dass die meisten osteuropäischen Frauen einen Freund, den sog. „Loverboy“ im Hintergrund haben. Sie wollen dies nicht wahrhaben, arbeiten ohne Zwang und schicken freiwillig fast ihr gesamtes Geld per Western Union zu ihrem Loverboy in die Heimat. Oftmals haben die Loverboys sogar mehrere Frauen, die deren luxuriösen Lebensstil finanzieren.
Die Frauenhäuser in Rumänien berichten, dass man früher die Türen von innen verriegeln musste, aus Vorsicht vor den Menschenhändlern und heutzutage müssten sie die Türen von außen zusperren, damit die Frauen in ihrem Schutz verbleiben und nicht zu ihren Loverboys heimlich zurückkehren.
Hat eine Frau keinen Mann im Hintergrund, dann ist jedoch das Leben ihr Zuhälter. Zitat Seite 24: „Warum ich mit dieser Arbeit begonnen habe? Es gibt ein Sprichwort in Bulgarien: Wenn dir das Leben immer wieder ins Fleisch schneidet, ist das Messer irgendwann auf dem Knochen. Dann hast du keine Wahl mehr. So war es bei mir. Es gab keine Person, die mich gezwungen hat. Es war das Leben, das mich zwang. Mein Zuhälter ist das Leben.“

Weitere lesenswerte Zitate:
Seite 97:
„Ich habe noch nie Geld von einem Gast in die Hand genommen. Der Freier muss das Geld irgendwo in der Wohnung hinlegen. Gibt er mir das Geld in die Hand, ist es Bezahlung.“
Seite 110:
Sie sehe, dass viele andere Frauen anschaffen, weil sie Liebe suchen. „Sie wollen nicht ihre eigene, ökonomische Situation verbessern, sondern die Situation ihres Freundes. Diese Frauen wollen Geld verdienen, um geliebt zu werden.“
Seite 114:
Was bei Saskia und in anderen Gesprächen mit den Frauen irritiert: Sie erzählen, als ob es um das Leben einer anderen Frau ginge und nicht um ihr eigenes. Kaum Emotionen. Brutales kommt beiläufig.
Seite 115:
„Wenn mich in den vergangen zehn Jahren jemand gefragt hätte, ob ich das freiwillig mache, hätte ich bis zum letzten Tag gesagt: Sicher mache ich das freiwillig! Keine Frau würde zugeben, dass sie für einen Mann anschafft.“, sagt Saskia.
Seite 115:
Es gibt zwei Dinge, die Emma sagt, die sich widersprechen und trotzdem wahr sind. Das eine: „Es war nicht mein eigener Wille mich zu prostituieren.“ Das andere: „Er hat mich nicht gezwungen.“
Seite 119:
„Aber ich bin stolz darauf, dass ich arm aufgewachsen bin. Denn ich habe den besten Schatz. Bildung.“
Seite 140:
„Was mich antreibt ist, den Menschen die Bedeutung dieses Jobs zu zeigen. Aufzuzeigen, dass Männer so viel bedürftiger sind, als wir glauben. Nicht alle haben eine Beziehung. Viele sind einsam. Klar, die Prostituierte ist kein Ersatz für die Liebe. Aber ein Pflaster. Das wirkt sofort und ist besser als nichts.“

Fazit:
Für das, dass die Autorin bisher keine Berührungspunkte mit der Sexarbeit hatte und eine „Fremde“ ist, ist das Buch sehr gut, einfühlsam und gelungen geschrieben. Der Einblick in die von Osteuropäerinnen dominierende Sexarbeit, ist authentisch und auch persönlich.
Allerdings wird Aline Wüst immer eine „Fremde“ sein, wie so viele Autoren, die über Sexarbeit berichten. Eine Prostituierte, Roxy, wies die Autorin darauf hin, dass sie es doch „selber tun solle“, um die Frauen zu verstehen.
Zitat Seite 8: „Als ich in der S-Bahn zurück nach Zürich fahre, denke ich: Roxy hat recht. Vielleicht ist das der Schlüssel um zu verstehen. Oder zumindest, um auf Augenhöhe mit den Frauen zu reden: es selber tun, mich prostituieren.“

Persönliches Fazit:
Das Buch mag für manche Leser vielleicht traurig erscheinen, aber ich finde es sehr gelungen und authentisch recherchiert.
Obwohl das Buch nicht wirklich positiv ist und auch nicht die Sonnenseite des Rotlichts beschreibt, ist es für mich trotzdem kein anti-Sexwork-Buch – da es nämlich nicht wie die typischen Bücher der Prostitutionsgegner mit erhobenem Zeigefinger moralisiert und ein Sexkaufverbot fordert. Warum eigentlich sind Prostitutionsgegnerinnen für die Einführung eines Sexkaufverbots? Zitat einer Bordellchefin während eines Vortrages an eine ehemalige Prostituierte aus dem Publikum, die sich eine Welt ohne Sexarbeit wünscht, Seite 135: „… Opfer sehen überall nur Täter.“ !!!

Für mich sind die Geschichten und grundsätzlich die Aussagen der Frauen eine ganz andere Welt, die meisten Sachen sehe ich komplett anders, da ich die schattige Seite des Rotlichts nicht kenne – dies bitte ich, beim Lesen des Buches zu beachten!
Zitat Seite 58: „Wenn du einen nackten Mann hast, der geil ist und dich anhechelt – das geht nicht ohne Drogen. Ich kannte keine, die nicht mit Alkohol, Medikamenten oder Drogen voll war. …Ich selber habe niemanden kennengelernt, der das ohne Drogen konnte. – Aber vielleich gibt es ja wirklich solche.“

Besonders gefallen haben mir die verschiedenen Meinungen und Gedanken der unterschiedlichen Frauen. Bisher habe ich in noch keinem von mir rezensierten Buch so viele Textstellen markiert – das Buch ist eine Fundgrube an weisen oder interessanten Zitaten von osteuropäischen Huren.
Das Buch ist sehr, sehr empfehlenswert – wenn man es mental verkraften kann und sich damit auseinandersetzen möchte.